Werner Meyer-Deters, Gewaltpädagoge und Gewaltberater (Foto: Christoph Grätz | Caritas)
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Essen. Caritas-Fachtagung „Psychische und emotionale Gewalt“

Gewalt ist allgegenwärtig. Sie begegnet uns in den Medien und täglich in den Nachrichten. Sie begegnet uns aber auch unmittelbar in den Straßen unserer Stadt und oft sogar in den eigenen vier Wänden.

Im Idealfall wehren sich die Opfer, indem sie die Täter anzeigen und somit zur Verantwortung ziehen können. Was aber, wenn Gewalt keine sichtbaren Spuren hinterlässt? Wenn sie wenig greifbar und nachweisbar ist, also nicht justiziabel und dennoch verheerende Folgen für die Opfer hat? Die von Scham- und Schuldgefühlen heimgesucht werden und unter Ängsten und Depressionen leiden, die sie sogar in den Selbstmord treiben können? – Es geht um psychische Gewalt, jene unsichtbare emotionale Gewalt, die sich nicht in Knochenbrüchen manifestiert, sondern auf der seelischen Ebene.

„Was uns wirklich weh tut“ – so der Titel der diesjährigen Fachtagung, zu der die Caritas die Mitarbeitenden der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (AGkE) des Bistums Essen eingeladen hat.

„Psychische Gewalt hat viele Gesichter, durchdringt alle Gesellschaftsschichten, alle Altersklassen und kann de facto wirklich jeden treffen“, betont Martina Lorra, Caritas-Referentin in der Kinder- und Jugendhilfe, die den Fachtag organisiert hat. „Hier geht es uns um den kollegialen und inhaltlichen Austausch und darum, dass die AGkE-Mitglieder bei diesem wichtigen und herausfordernden Thema alle auf dem gleichen Stand sind.“

In fünf Workshops näherten sich denn auch ca. 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmer dem in der Tat äußerst vielseitigen Phänomen: Kriminalhauptkommissar Klaus Bilstein berichtete zum Beispiel aus dem Polizei-Alltag. Dirk Ruthmann vom BGW Präventionsdienst stellte Strategien vor, wie man sich gegen seelische Gewalt wehren kann und Werner Meyer-Deters, Gewaltpädagoge und Gewaltberater, stellte eindringlich dar, dass Gewalt – natürlich! – schon mit (Schimpf-)Worten beginnt, die das Opfer verletzen, isolieren und ausgrenzen.

Das ist Mobbing!

Einer wird herausgepickt und fertiggemacht. Weil er zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu schlau oder nicht schlau genug ist – die Gründe sind willkürlich! Hauptsache man kann das Opfer als biblischen Sündenbock mit seinen eigenen Schwächen beladen und in die Wüste jagen. „Das ist Vorsatz“, betont der Fachmann. „Die Täter versuchen aus einer Form des Selbsthasses heraus, sich auf Kosten anderer groß zu machen. Für diese Gefühlsterroristen ist das eine Kompensation; in dieser Tat kehren sie ihre eigenen Ohnmachtsgefühle um.“

Und die Opfer leiden.

Wie etwa Felix*, neun Jahre, der in der Schule so sehr drangsaliert wurde, dass er in seiner Verzweiflung einmal zuschlug.

Seine erschrockenen Eltern suchten die Erziehungsberatung der Caritas Duisburg auf und schilderten auf Nachfrage die Veränderungen, die sie bei ihrem Sohn in den letzten Monaten wohl wahrgenommen hatten, aber nicht deuten konnten: Die Bauchschmerzen, die Fehltage in der Schule, kaputte Schulsachen, verschwundenes Geld. All das bei einem Jungen, der es eigentlich immer allen recht machen will.

Erziehungsberater Jürgen Schreiber erinnert sich: „Nach sechs Monaten erzählte der Junge dann endlich unter Tränen, wie ihn seine Mitschüler bedroht, schikaniert und bloßgestellt haben. Einmal war er so verzweifelt, dass er sich tatsächlich körperlich gewehrt hat. Und dann endlich hat die Schule etwas unternommen – allerdings gegen das Opfer!“

„Mobbing in der Schule muss an die große Glocke!“

In dem geschützten Raum der Erziehungsberatung konnte sich Felix endlich öffnen. „Ich glaube dir“, machte ihm Schreiber Mut und versprach: „Wir unternehmen jetzt etwas. Das kannst du nicht alleine schaffen!“

Mit Einwilligung der Eltern sprach der Fachmann daraufhin mit der Schule, die sich für das Thema offen zeigte. Es fanden Gespräche mit der Schulleitung und der Klassenlehrerin statt, die sensibilisiert wurde. Ein wichtiger erster Schritt, immerhin seien zehn Prozent aller Kinder von Mobbing betroffen, so Schreiber, und oft schwele das im Verborgenen: „Die Zusammenarbeit mit den Schulen ist hier elementar, denn die müssen dem Thema Mobbing Energie entgegensetzen. Dieses Thema muss an die ganz große Glocke, damit sich etwas ändert!“

Das sieht auch Werner Meyer-Deters so: „Jedes dritte Schulkind ist von Mobbing betroffen, 15 Prozent von ihnen berichten sogar von Selbstmordgedanken.“

Was kann man dagegen tun?

Der Gewaltpädagoge benennt die Maßnahmen: „Im ersten Schritt geht es darum, für dieses Thema zu sensibilisieren. Und zwar überall dort, wo Menschen mit Kindern zu tun haben. Ein lohnendes langfristiges Ziel wäre es, wenn im Rahmen des Gewaltschutzes im BGB und Strafgesetzbuch auch die emotionale Gewalt geächtet würde!“

Lehrer müssen hinsehen. Eltern müssen Auffälligkeiten hinterfragen und sich Hilfe holen. Zum Beispiel bei der AGkE und der Caritas, die Angebote wie Erziehungs-, Familien- und Lebensberatung vorhalten. Denn es ist immer das gesamte System, das Unterstützung braucht. Schließlich leiden auch die Eltern: Mein Kind vertraut mir nicht mehr? Es wird gequält und ich kann es nicht beschützen?

Doch! In der Beratung wird ihnen genauso geholfen wie dem Kind: Jürgen Schreiber berichtet: „Ich habe mit Felix weitergearbeitet, ihm die Zeit und den Raum gegeben, wieder Selbstvertrauen zu entwickeln. Wir haben ihn auch beim Fußballverein angemeldet, damit er sich sozial nicht weiter zurückzieht. Für ein anderes Kind könnte das Erlernen eines Instrumentes vielleicht das Richtige sein.“

In einem sind sich die Fachleute einig:

Gewalt an Schulen hat es immer gegeben. Die körperliche Gewalt ist jedoch auf dem Rückzug. Zugenommen hat die psychische und emotionale Gewalt. Und die greift rasant um sich. Befeuert von den modernen Kommunikationsmedien, die Gewaltpädagoge Werner Meyer-Deters so beschreibt: „Das Internet ist das ultimative Tatwerkzeug. Hier können sich die Täter perfekt verstecken. Sie müssen sich nicht `face to face´ messen, sie haben hier eine völlig neue und unendlich feige Form der Gewaltausübung.“ Mit weitreichenden Konsequenzen für die Opfer, denn das Internet vergisst nichts.

*Name geändert

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