Unterrichtssituation in einer AWO Einrichtung zur beruflichen Rehabilitation und Integration (Foto: AWO/Marc Albers)
Anzeigen

Moers/Kamp-Lintfort/Wesel. Vielleicht war die Frage „schaffe ich das“ die, die Sonja B. sich in den vergangenen Jahren besonders häufig gestellt hat. Ganz untypisch für eine Frau, die von sich selbst sagt, dass sie immer gleich loslegen will und die Dinge direkt angeht. Aber wenn nichts mehr so ist, wie es sein sollte? Dann kommen Selbstzweifel, Angst, dunkle Tage und die bange Frage „Schaffe ich das?“. Die kann Sonja B. heute wieder mit einem lauten Ja beantworten. Dass sie dazu in der Lage ist, hat sie auch dem Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu verdanken. Denn nach einer psychischen Erkrankung, die ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hat, lernte sie in Kamp-Lintfort Schritt für Schritt wieder Mut, Zuversicht, Selbstvertrauen und alles, was notwendig ist, um ins Arbeitsleben zurückzukehren und einen neuen Job zu beginnen. „Einrichtung für berufliche und soziale Rehabilitation und Integration“ ist der etwas sperrige Name für ein erfolgreiches Projekt.

An drei Standorten im Kreis Wesel bietet die AWO Reha-Lehrgänge an, für Menschen mit körperlichen Einschränkungen (siehe Infobox) oder psychischen Erkrankungen. Zwölf Monate dauert der Kurs für diese Gruppe. Eine größere mit 25 Plätzen sitzt in Moers, eine kleine mit fünf Plätzen in Kamp-Lintfort, eine weitere in Wesel. In den ersten acht bis zwölf Wochen steht Unterricht auf dem Programm, aber auch freies Arbeiten, und nicht zwangsläufig immer mit ganzer Stundenzahl. „Wenn jemand eine psychische Erkrankung hatte oder hat und lange aus dem normalen Alltag heraus ist, fehlt die Tagesstruktur, kann ein ganzer Tag Unterricht eine zu große Belastung sein“, sagt Michaela Mayboom, die Leiterin der drei Einrichtungen. In diesen ersten Wochen und Monaten steht auch Beziehungsarbeit zwischen dem Team und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf dem Programm. „Haben sie dann Vertrauen zu uns gefasst, wird gemeinsam überlegt, wo der Weg in Zukunft hingehen kann.“ Ist eine Idee da, soll sie in die Praxis umgesetzt werden.

Aber nicht gleich mit einem Praktikum. Michaela Mayboom und ihr Team setzen auf Hospitationstage, eine Möglichkeit, für ganz kurze Zeit in einen Betrieb, eine Branche hineinzuschnuppern. „Und erst, wenn dort alles passt, die Arbeit, die Kollegen, der Chef, dann gibt es das erste, vierwöchige Praktikum.“ Die intensive Vorbereitung sei notwendig, damit das Praktikum ein Erfolg wird. Wer eine psychische Erkrankung habe, leide doppelt unter einem Abbruch, empfinde ihn als schlimmes Scheitern nach dem Motto: „Ich schaffe es ja doch nicht.“ Das Konzept spricht für sich, es gebe nur wenige, die ihr Praktikum vorzeitig beenden würden. Überhaupt ist das Team während des Praktikums mit im Boot. Die Betreuung hat Sonja B. als sehr wertvoll empfunden. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben immer sofort gemerkt, wenn etwas nicht stimmte, ohne dass einer von uns etwas sagen musste.“ Auch die Gruppe sei eine große Unterstützung gewesen, der Kontakt besteht immer noch – auch ohne Lehrgang.

Nach dem ersten Praktikum gibt es wieder Unterricht, weitere Hospitationstage, ein längeres Praktikum und im Idealfall einen festen Arbeitsvertrag. Die Vermittlungsquote liegt bei 50 Prozent. Sonja B. gehört zu diesen 50 Prozent. Am Ende konnte die kaufmännische Angestellte sogar zwischen zwei Angeboten wählen, sie entschied sich für den Arbeitgeber AWO. Wieder im Job und gesund zu sein, und ein festes Gehalt zu bekommen, „das ist ein Super-Gefühl.“

Dass auch die AWO Menschen nach der Reha einen Arbeitsplatz anbietet, ist für Michaela Rosenbaum, Referatsleiterin Bildung, Beratung, Inklusion, eine Selbstverständlichkeit. „Wir können dies nicht nur von anderen fordern, sondern müssen mit gutem Beispiel vorangehen.“

Angebote zu beruflicher und sozialer Integration würden in den kommenden Jahren eine immer größere Bedeutung bekommen, nicht nur angesichts der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen. Die Arbeiterwohlfahrt sei ein kleiner Träger, was aber kein Nachteil sei. Ein kleines überschaubares Team schaffe eine familiäre Atmosphäre, „in einer Situation, die für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr belastet und mit Selbstzweifeln behaftet ist.“ Arbeit sei mehr als nur ein Broterwerb: Eine sinnvolle Tätigkeit, die dem Tag Struktur gebe, die den Menschen Perspektiven und Teilhabe biete. Dass die Reha-Lehrgänge ein Erfolg seien, sei dem Team zu verdanken, „das unglaublich engagiert arbeitet“.

Infobox:

Der Kreisverband Wesel der AWO bietet auch Lehrgänge für Menschen mit körperlichen Einschränkungen an. Maximal 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sitzen in einem Kurs, drei gibt es pro Jahr. Auf drei Monate Unterricht folgen sechs Monate Praktikum. Der Schwerpunkt im Unterricht liegt auf der beruflichen Orientierung, um Menschen wieder eine Perspektive zu geben. Sollen ganz neue Wege beschritten werden, kann der erlernte Beruf vielleicht das Sprungbrett sein? „Der klassische Fall“, sagt Michaela Mayboom, „ist der Maurer, der seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Aber vielleicht ist er als Berater im Baustoffhandel gefragt.“ 70 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt.

Der Zugang zu den Rehabilitationsangeboten ist für alle Gruppen gleich, unabhängig ob es sich um eine physische oder psychische Krankheit handelt. Zum Abschluss einer medizinischen Reha wird dem Patienten in der Regel ein Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben bei der Rentenversicherung empfohlen. Wird dieser positiv beschieden, ist der Weg frei für einen Lehrgang bei der AWO oder einem anderen Anbieter.

Das Team der AWO Einrichtung zur beruflichen Rehabilitation und Integration in Kamp-Lintfort
: v.l. Claudia Wenz, Heike Stiebeler, Sabine Broden (Foto: AWO/Marc Albers)
Beitrag drucken
Anzeige